Zum Inhalt springen

Was jeder wissen sollte: Wofür das Internet mich belohnt

Dieses Titelformat ist ausgenudelt. Aber: Für so etwas küssen die asozialen Medien mir die Füße. Inhaltlich muss das gar nicht korrekt sein, die 90er sind schließlich vorbei. Schließlich kann ich direkt differenzieren: Eigentlich meine ich nicht das Internet, sondern die asozialen Medien. Doch erstens sind diese Dinge für die meisten Menschen das Gleiche und zweitens beherrschen (auch deswegen) die asozialen Medien das Internet und somit schreiben sie die Regeln.

Selbst wenn du keinen Account bei Facebook oder Instagram hast, musst du mit dem Mist leben, den diese Plattformen im Internet anrichten.

Und schon erfülle ich Voraussetzung Nummer zwei für einen erfolgreichen Artikel: Du ärgerst dich. Zumindest mild, oder? Sieh es mir nach – ich bin in dieser Sache nicht besonders gut, bin mit Sachlichkeit, Wissenschaftlichkeit und Tatsachen aufgewachsen. Da hat man in diesem Internet eigentlich nichts mehr verloren.

Kommen wir zum Punkt: Das Internet ist ein Schlachtfeld. Der Kampf ist gnadenlos und schrecklich. Das Objekt: Deine Aufmerksamkeit. Schließlich gibt es hier für dich alles gratis und irgendwie muss sich das System finanzieren. Das bezahlst du mit deiner Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit für Werbung, direkt oder indirekt, maßgeschneidert oder allgemein. Oder Aufmerksamkeit für politische Bewegungen, Fehlinformationen. Anregungen zum Verändern deiner Weltanschauung, Änderung deiner Verhaltens, Manipulation deiner Gewohnheiten.

Und wenn dich das ärgert und dich aufregst, dann bleibst du dran. Es spielt auch fast keine Rolle, was ich dir hier an Quellen und Nachweisen liefere: Entweder, du weißt das alles schon und dann liest du es gerne, weil es dich bestätigt. Dann brauchst du keine Quellen und Nachweise. Du glaubst es ohnehin und liest bis zum Ende, weil die Bestätigung sich gut anfühlt.

Oder du siehst es genau andersherum und wirst all meine Quellen diffamieren, diskreditieren oder gar nicht erst anschauen. Auch du wirst wahrscheinlich bis zum Ende lesen und mir dann in den Kommentaren so richtig die Meinung geigen.

Die Aufmerksamkeit dieser beiden Gruppen habe ich schonmal. Und ich kann hier nebenher plump ein paar Anzeigen laufen lassen oder durch meine Wortwahl einige Assoziationen herstellen. Wie die Nummer mit dem Schlachtfeld.

Dann lesen noch diejenigen mit, für die das alles neu ist. Die haben sich damit noch nicht befasst und wussten nicht, wie diese noch immer relativ neue und sich ständig wandelnde Internetwelt funktioniert. Von diesen Lesern bekomme ich nicht so viele, weil ich einen kapitalen Fehler begangen habe: Kein Beitragsfoto, kein Bild, keine Karikatur. Nix Klickibunti, sondern nur Text. Wie unappetitlich.

Im Internet spiele ich die Rolle eines content creator: Ich erschaffe Inhalte. Das kostet Zeit und Mühe. Zwar könnte ich das als Hobby verbuchen. Aber für viele Inhalte ist das dauerhaft kaum zu leisten. Diese Arbeit kostet viel Zeit und viel Mühe. Das wird schnell zum Vollzeitjob. Und der will bezahlt werden.

Damit ich bezahlt werde, muss jemand etwas kaufen. Dieser Jemand bist du, auch wenn du erstmal keinen Cent bezahlst, um dies zu lesen. Aber hier könnte Werbung stehen, entweder verwaltet durch Google oder einfach direkt für meine Bücher oder irgendwelche Seminare zum defäkatieren im Wald oder Online-Kongresse, weil das Wort so wichtig klingt.

Damit du auf diese Anzeigen hin handelst, musst du aber erstmal hier auf meiner Website landen. Wie geht das? Du findest den Link bei den asozialen Medien. Denn dort halten sich die meisten Menschen im Internet auf und dort werben wir also für unsere Inhalte. Und da kommt der Titel dieses Artikels ins Spiel.

Jeden Tag erscheinen Millionen neuer Beiträge als Inhalte, die gesehen werden wollen. Deine Zeit ist aber begrenzt. Also kämpfen wir um deine Zeit, deine Aufmerksamkeit.

Früher, in diesem ominösen Früher, in dem ich aufgewachsen bin und das ich bis heute für eine gute Welt halte, hat eine bestmögliche Zusammenfassung des Inhalts genügt. Vielleicht mit ein wenig Wortgewandheit, um es appetitlich zu machen. Wirklich neu ist an diesen Internetregeln auch nichts. Das sind die Techniken der Werbetexter. Dort geht es nicht um Qualität oder Notwendigkeit, Hilfe oder Gefallen. Sondern es geht um Verkauf. Und durch die Algorithmen der asozialen Medien potenziert sich die Macht dieser Techniken.

Diese neue Waffe, die Kombination der gut erprobten Werbetexte mit der Verarbeitung deiner Daten und Verhaltensweisen durch einen Computer, eine Superwaffe im heutigen Jargon, hat meine Arbeit innerhalb der letzten zehn Jahre auf den Kopf gestellt.

Vor zehn Jahren konnte ich einfach echt gute Artikel schreiben, die ins Internet stellen und die wurden gelesen. Und dann hat der eine oder andere mein Kochbuch gekauft. Dann wuchsen die asozialen Medien und ich habe ganz unschuldig dort auf meine Artikel verlinkt. So wie tausend andere Autoren auch. Wir haben gemeinsam gute Inhalte geschaffen, geteilt und verbessert und ab und zu hat jemand ein Kochbuch oder ein T-Shirt gekauft und man konnte von dieser Arbeit vielleicht leben: Die meiste Zeit Artikel schreiben, ein wenig im Netz posten.

Heute ist das umgekehrt. Wollte ich von dieser Arbeit heute noch leben, dürfte ich mit dem Schreiben gar nicht anfangen, bevor ich eine Suchbegriffsanlyse durchführe. Dann muss ich mir erstmal das Thema ausdenken und dann nach einem festen Schema schreiben. Das Wichtigste ist dabei die Überschrift, das Zweitwichtigste das Foto oder Bild. Der Text ist Nebensache. Und dann muss ich den Beitrag unter die Leute bringen. Alle Portale abklappern. Verschachern.

Tragisch ist, dass ich heute um ein Vielfaches besser schreibe als damals, es aber nur noch ein Bruchteil der Menschen liest.

Das Vermarkten kostet heute neunzig Prozent meiner Zeit für dieses Projekt – oder würde es, wenn ich es noch machte. Finde ich aber kacke, deswegen mache ich’s nicht mehr. Ich bin kein Verkäufer, kein Klinkenputzer. Ich bin Pazifist, deswegen nutze ich die Superwaffe nicht.

Ich bin Bastler. Ich mache. Ich erschaffe Dinge. Für den Kehricht ist mir das Leben zu kurz.

Und wie schließe ich diesen Artikel ab, der nicht zu meinen Glanzleistungen zählt, jedoch voller Aufrichtigkeit steckt?

Klar: Mit dem Call-to-action. Das Leserengagement wecken. Eine Frage stellen wie: Wie seht ihr das? Habt ihr diese Veränderung in der Internetkultur auch erlebt? Wie geht es euch damit? Gefällt euch diese Welt oder wünscht ihr euch etwas anderes?

Die Kommentarfunktion ist deaktiviert.